Inter Mailand gegen Bayern München: Elastische alte Herren
Inter Mailand ist Ausbildungsverein für die Premier League und Tummelplatz älterer Spieler. Aber der starke Auftritt gegen Bayern ist nicht überraschend.

Sie haben keinen echten Weltstar im Kader, sie verdienen gut die Hälfte im Vergleich zu den Bayern, nämlich 140 Millionen Euro Bruttojahresgehälter gegenüber 274 Millionen Euro. Aber nach den ersten 90 Minuten des Viertelfinalduells in der Champions League der Männer liegt Inter Mailand gegen den FC Bayern vorn. Das hat in Deutschland verblüfft. Wer beide Ligen kennt, war gar nicht so erstaunt. Für den Schweizer Ciriaco Sforza, drei Jahre im Bayerndress und eine eher mäßige Saison in Schwarzblau, war Inter schon vor dem Hinspiel der Favorit. Sforza lobte Inter als „eingespielte Einheit“ mit einem „für sie perfekten 3-5-2-System“.
Wie gut dort ein Rädchen ins andere griff, wie sehr die Abstände stimmten, wie elastisch sich die Blöcke auf veränderte Spielsituationen einstellen konnten, erfuhren die Bayern am eigenen Leib. „Sie sind extrem schwer zu spielen, sind zäh wie Kaugummi“, lautete das Fazit von Thomas Müller.
Solide Technik am runden Arbeitsgerät ist ein Vorzug dieses Teams. Der Chefkonstrukteur, der frühere Manager und jetzige Präsident Giuseppe Marotta, scoutete den Kader nach den Kriterien Ballfertigkeit und Charakter zusammen. Sieben Jahre ist er mittlerweile bei Inter, kaum ein Spieler, mit dem er nicht höchstpersönlich das Vertragswerk gestaltet hat. Marotta hatte auch das Glück, sich mit keiner Einkaufskommission auseinandersetzen zu müssen. In der Dekade zuvor war er der Architekt der Erfolge des Rivalen Juventus Turin.
Geholt hat Marotta auch Trainer Simone Inzaghi. Dem früheren Lazio-Coach trauten anfangs weder Fans noch Medien. „Zu weich, zu unerfahren, zu wenig Charakter“, lauteten die vorschnellen Urteile. Inzaghi ist allerdings ein taktisch gewiefter Trainer mit Faible für sichere Ballzirkulation wie auch schnelle Vertikalisierung. Auch verbal vertikalisiert er inzwischen. „Wir können das Triple, nein, das Quadruple holen“, gab er als Marschroute aus. Neben Meistertitel, Coppa Italia und Champions League peilt er nicht nur die Teilnahme, sondern gleich den Sieg bei der Klub-WM an.
Neue Verhältnisse
Einen möglichen Fünffachtriumph gaben die Nerazzurri aufgrund der Niederlage im Supercup gegen den Stadtrivalen AC Mailand vorzeitig aus der Hand. Weil auch die Liga-Duelle gegen Milan keine Siege brachten und selbst der ins Mittelmaß abgesunkene Altmeister Juventus in dieser Saison gegen den aktuellen Tabellenführer Inter punkten konnte, geriet der Nimbus von Inzaghi, vor allem wichtige Spiele gewinnen zu können, ins Wanken.
Für die Champions League allerdings gilt das nicht. Pep Guardiolas Manchester City hat man auf der Insel ein 0:0 abgetrotzt, Arsenal 1:0 bezwungen. Nur gegen Leverkusen setzte es eine 0:1-Niederlage. Da war Inter aber schon für die nächste Runde qualifiziert. Im Achtelfinale gelangen zwei Siege gegen Feyernoord Rotterdam. Gleiches strebt Inter nun gegen die Bayern an. „Wir wollen jetzt auch das Rückspiel gewinnen“, kündigte Inter-Keeper – und Ex-Bayer – Yann Sommer an.
Sommer steht für eine neue Tendenz in bayrisch-lombardischen Verhältnissen. Einst zogen Profifußballer von München nach Mailand, um mehr Geld zu verdienen und endlich internationale Erfolge zu feiern. Lothar Matthäus und Andreas Brehme etwa konnten erst mit dem Wechsel 1988 von Bayern zu Inter ihren ersten großen Pott im europäischen Klubfußball holen. In den 1980er und 1990er Jahren war die Serie A die führende Liga im Weltfußball. Das hat sich geändert.
Inter ist zu einer Mischung aus Ausbildungsverein für die Premier League und Tummelplatz älterer Herren geworden, die mit einer gesunden Balance aus individuellem Spielraum und taktischer Disziplin einen goldenen Herbst erleben wollen. Neben Sommer (36 Jahre) gilt das für Defensivorganisator Francesco Acerbi (37), die Mittelfeldlenker Henrikh Mkhitaryan (36) und Hakan Çalhanoğlu (31) sowie Sturmjoker und Stimmungskanone Marko Arnautović (35). Der Ex-Bremer schoss sich am Wochenende beim 3:1 gegen Cagliari mit einem Traumtor und einer noch traumhafteren Vorbereitung so richtig heiß für die Bayern.
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